Dr. Marc Esser, Dr. Juliane Schreier, Dr. Bastian Thaa (veröffentlicht in Market Access & Health Policy 2017; 7(5):26-28)

Lebensqualität in der frühen Nutzenbewertung

Die gesundheitsbezogene Lebensqualität spielt in der frühen Nutzenbewertung eine wachsende Rolle. Wir geben eine Einführung in die Thematik und diskutieren aktuelle G-BA-Beschlüsse.

Konstrukt der gesundheitsbezogenen Lebensqualität

Die gesundheitsbezogene Lebensqualität (Health-Related Quality of Life, HRQoL) ist ein multidimensionales Konstrukt aus physischen, psychischen und sozialen Dimensionen (Abb. 1). Im Vergleich zur allgemeinen Lebensqualität ist das Konstrukt der gesundheitsbezogenen Lebensqualität enger definiert, da z.B. die finanzielle Situation der Betroffenen unberücksichtigt bleibt. Während Daten zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität für die Arzneimittelzulassung eher ergänzenden Charakter haben, werden solche Daten für die frühe Nutzenbewertung neben den patientenrelevanten Endpunkten zu Mortalität, Morbidität und Nebenwirkungen generell als gleichrangiges Nutzenkriterium angesehen. Die Lebensqualität wird bei der frühen Nutzenbewertung anders als in Großbritannien nicht mit der Lebenszeit zu »qualitätsadjustierten Lebensjahren« (QALYs) verrechnet.

 

Diagramm Gesundheitsbezogene Lebensqualität 

Abb. 1: Die Dimensionen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität

Stellenwert der gesundheitsbezogenen Lebensqualität in der frühen Nutzenbewertung

In der medizinischen Versorgung stehen immer stärker die älteren und chronisch kranken Patienten im Vordergrund – mit der Konsequenz, dass das primäre Therapieziel von der Heilung mehr in Richtung Erhalt der Lebensqualität rückt. Entsprechend haben sich Vertreter von G-BA und Krankenkassen in letzter Zeit wiederholt dafür ausgesprochen, dass der Einfluss von Arzneimitteln auf die gesundheitsbezogene Lebensqualität mehr in den Mittelpunkt des Verfahrens gestellt werden sollte. Gerade die Lebensqualität von Patienten in der letzten Lebensphase wird vom G-BA höher bewertet als eine marginale Verlängerung der Lebenszeit. Auch in den Beratungsgesprächen beim G-BA im Vorfeld der Dossiereinreichung wird regelmäßig an die pharmazeutischen Unternehmen appelliert, belastbare Daten zur Lebensqualität vorzulegen.

Gesundheitsbezogene Lebensqualität und PROs 

Die gesundheitsbezogene Lebensqualität wird direkt vom Patienten selbst berichtet, gehört damit also zur Klasse der Patient Reported Outcomes (PROs). Das wesentliche Merkmal ist dabei die subjektive Wahrnehmung durch den Patienten. Hierdurch soll die Patientenperspektive in die Therapiebewertung gebracht werden, die durch objektive Parameter nicht immer adäquat abgebildet wird. PROs werden nicht nur zur Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität verwendet, sondern es können auch andere Konstrukte oder Symptome abgefragt werden, solange sie unmittelbar vom Patienten berichtet werden. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität zählt zu den am häufigsten erhobenen PROs. Insgesamt reflektiert die steigende Bedeutung von PROs die gesellschaftliche Forderung nach stärkerer Einbeziehung der Patientensicht in die Therapieentscheidung.

Messung von gesundheitsbezogener Lebensqualität

Für den Nachweis der gesundheitsbezogenen Lebensqualität oder anderer PROs gelten bei G-BA und IQWiG generell die gleichen Anforderungen wie bei anderen Endpunkten, das heißt, es werden in der Regel randomisierte, kontrollierte Studien gefordert. Da die gesundheitsbezogene Lebensqualität naturgemäß subjektiv ist, wird hierbei unverblindeten Studien ein hohes Verzerrungspotential zugeschrieben. Für die Messung der Effektstärke hat sich der Begriff der klinischen Relevanzschwelle bzw. »minimal important difference« (MID) etabliert – des kleinsten Unterschieds, der als klinisch relevant wahrgenommen wird. Dieser sollte im Vorfeld festgelegt, gut begründet und idealerweise validiert werden. Wenn möglich, sollten zur Steigerung der Aussagekraft individuelle Patienten-Differenzen (»Responder-Definition«) erhoben werden und nicht Gruppen-Differenzen.

Auswahl der richtigen Instrumente

Generell wird zwischen generischen und krankheitsspezifischen Instrumenten unterschieden. Generische Instrumente sind unabhängig von einer bestimmen Erkrankung darauf ausgelegt, sämtliche relevanten Domänen der gesundheitsbezogenen Lebensqualität zu erfassen, was die Beantwortung der dazugehörigen Fragebögen sehr zeitaufwendig für den Patienten macht. Im Vergleich zu generischen Instrumenten haben krankheitsspezifische Instrumente eine höhere Sensitivität bei der Messung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität, da ihre Fragen auf bestimmte Erkrankungen, Populationen oder Zustände zugeschnitten sind. Die am häufigsten in Nutzendossiers zur Erfassung von gesundheitsbezogener Lebensqualität eingesetzten Instrumente sind nach einer Analyse von Borchert et al. EQ-5D (57%) SF-36 (32 %) und EORTC QLQ (21 %). Während SF-36 und EORTC QLQ in jeweils etwa einem Drittel der Fälle zur Erteilung eines Zusatznutzen im Beschluss führten, war das bei EQ-5D nur in 7% aller Fälle so, da der EQ-5D von G-BA und IQWiG zur Erfassung der Lebensqualität regelhaft nicht anerkannt wird; die visuelle Analogskala EQ-5D VAS wird als Morbiditäts-Endpunkt bewertet.

Alle Instrumente müssen in jedem Fall in einer validierten Version in der jeweiligen Sprache vorliegen, was vor allem bei globalen Studien ein Problem darstellen kann. In der Regel wird die gesundheitsbezogene Lebensqualität so wie andere PROs auf Studienebene als sekundärer Endpunkt erhoben.

Insgesamt nimmt das Angebot an geeigneten Instrumenten immer mehr zu. Die Datenbank PROQOLIDTM (https://eprovide.mapi-trust.org) listet gegenwärtig 1.413 Instrumente für die gesundheitsbezogene Lebensqualität und andere PROs. In der aktuellen PRO-Forschung werden deshalb viele Instrumente vergleichend untersucht, um Hilfe für die Auswahl des bestgeeigneten Instrumentes zu geben.

Steigerung der Rücklaufquote

Damit die Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität als adäquat eingestuft wird, sollte die Rücklaufquote laut IQWiG mindestens 80 % betragen, was aber häufig nicht oder zumindest nicht zu jedem Befragungszeitpunkt erreicht wird. Geringe Rücklaufquoten führen in der Bewertung durch das IQWiG zur Zuschreibung eines hohen Verzerrungspotentials, sodass selbst bei signifikanten und klinisch relevanten Verbesserungen in der Aussage zur Ergebnissicherheit meist nur ein »Anhaltspunkt« zuerkannt wird.

Es gibt viele Möglichkeiten, die Rücklaufquoten zu optimieren. Hierzu gehören die bessere Motivation von Patienten und Interviewern, die Verwendung von möglichst kurzen und dem Gesundheitszustand des Patienten angemessenen Fragebögen, frankierte Rückumschläge bei postalischen Befragungen, personalisierte Begleitschreiben usw. Die Verwendung krankheitsspezifischer Instrumente reduziert den Befragungsaufwand und steigert die Rücklaufquote, da krankheitsspezifische Fragen vom Patienten besser akzeptiert werden. Besonders bei generischen Instrumenten sind manche Fragen nach dem Gesundheitszustand hingegen nicht angemessen – etwa die Frage an einen bettlägerigen Krebspatienten im finalen Stadium, wie schwer ihm längere Spaziergänge fallen. Solche Fragen sind für den Patienten frustrierend und reduzieren daher die Motivation, die Fragen zu beantworten, was eine geringe Rücklaufquote zur Folge hat.

In der Zukunft könnten Computer-Adaptive Tests (CAT) dazu beitragen, das Problem der zu geringen Rücklaufquote zu lösen. Das Prinzip von CAT ist, dass dem Patienten nur Fragen präsentiert werden, die zu seinem bisherigen Antwortverhalten bzw. Krankheitszustand passen. Außerdem werden dabei die bekannten Verzerrungen durch »Deckeneffekte« und »Bodeneffekte« konventioneller Instrumente reduziert, indem bevorzugt Items im vermuteten mittleren Ausprägungsbereich präsentiert werden. Inwieweit CAT von IQWiG und G-BA künftig akzeptiert werden, ist noch fraglich.

Gesundheitsbezogene Lebensqualität in aktuellen Verfahren der frühen Nutzenbewertung.

Die gesundheitsbezogene Lebensqualität wird inzwischen in klinischen Studien häufiger ermittelt. Diese Daten gehen aber oft aufgrund methodischer Mängel nicht in die Nutzenbewertung ein, so dass der G-BA nur selten einen Zusatznutzen aufgrund einer verbesserten gesundheitsbezogenen Lebensqualität zuerkennt. Häufige Kritikpunkte sind Unausgewogenheit der Studienarme, niedrige Rücklaufquoten, Auswahl nicht validierter Instrumente oder unzureichende Nachbeobachtung.

Unsere aktuelle Auswertung der zwischen dem 01.01.2017 und dem 15.08.2017 abgeschlossenen Verfahren der frühen Nutzenbewertung zeigt, dass in 14 von 28 Dossiers Daten zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität dargestellt wurden (Abb. 2). Doch nur bei 4 dieser 14 Verfahren gingen die Daten zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität positiv in die Bestimmung des Zusatznutzens ein. Für Pembrolizumab (NSCLC) wurde ein Anhaltspunkt für einen Zusatznutzen basierend auf einer Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität festgestellt. Ceritinib (NSCLC) erhielt sogar einen beträchtlichen Zusatznutzen. Der G-BA begründet den Beschluss mit einer bisher nicht erreichten deutlichen Verbesserung des therapierelevanten Nutzens aufgrund von deutlich verringerten Krankheitssymptomen und einer verbesserten Lebensqualität, was insgesamt als spürbare Linderung der Erkrankung gewertet wurde. Auch für Ibrutinib (Chronische Lymphatische Leukämie, CLL) in der Kombination mit Bendamustin und Rituximab stellte der G-BA einen beträchtlichen Zusatznutzen fest, wobei ein positives Ergebnis in der sozialen Funktion in die Bewertung einging. Für Carfilzomib (Multiples Myelom) in Kombination mit Dexamethason stellte der G-BA einen Zusatznutzen hinsichtlich der Lebensqualität fest, wies jedoch auf Unsicherheiten wegen des aufgezeigten Verzerrungspotentials durch das offene Studiendesign sowie fehlenden Informationen zur Methodik hin. Bei Reslizumab (COPD), Obeticholsäure (Biliäre Leber-Zirrhose) Palbociclib (Brustkrebs), Opicapon (Parkinson) und Pembrolizumab (NSCLC) konnten keine vorteilhaften statistisch signifikanten Unterschiede zwischen Behandlungs- und Kontrollarm gezeigt werden. Bei Ixazomib (Multiples Myelom) war die Rücklaufquote so gering, dass die Daten nicht verwertbar waren. Bei Venetoclax (CLL) verhinderte ein zu hohes Verzerrungspotential der beiden einarmigen Studien die Anerkennung eines Zusatznutzens auf Basis der Lebensqualitätsdaten. Bei Carbozantinib (fortgeschrittenes Nierenzellkarzinom) war das verwendete Instrument zur Erhebung der Lebensqualität nicht ausreichend validiert. Im Falle von Sofosbuvir/Velpatasvir (Hepatitis C) waren die vorgelegten Daten zur Lebensqualität wegen unterschiedlicher Beobachtungsdauern im Behandlungs- und Vergleichsarm nicht sinnvoll auswertbar. Zudem wurde in der Mittelwertdifferenz kein statistisch signifikanter Unterschied festgestellt. Bei Elbasvir/Grazoprevir (Hepatitis C) waren die vorgelegten direkten und indirekten Vergleiche zur Beurteilung des Zusatznutzens nicht geeignet. In den restlichen 14 Verfahren wurden keine Daten zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität vorgelegt. Diese Ausschnittsbetrachtung aktueller Verfahren zeigt, wie viel Potential in der konsequenteren Ausschöpfung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität als patientenrelevanter Endpunkt in der frühen Nutzenbewertung liegt.

 

Tortendiagramm gesundheitsbezogene Lebensqualität in der früher Nutzebewertung

Abbildung 2: Gesundheitsbezogene Lebensqualität in aktuellen Verfahren der frühen Nutzenbewertung. Berücksichtigt wurden alle zwischen dem 01.01.2017 und dem 15.08.2017 abgeschlossenen Verfahren

Fazit: Die Vorlage valider Daten zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität wird zunehmend für die frühe Nutzenbewertung eingefordert. Zur Anerkennung eines auf diesen Daten basierenden Zusatznutzens kommt es jedoch nur selten. Bessere Motivation von Patienten und Studienärzten, methodische Optimierungen und Computer-Adaptive Tests (CAT) könnten künftig dazu beitragen, dass sich die gesundheitsbezogene Lebensqualität stärker in den Ergebnissen der frühen Nutzenbewertung niederschlägt und sich damit auch positiv auf die  Preisverhandlungen auswirkt.

Literatur:

Borchert K. et al. The value of patient reported outcomes in German AMNOG dossiers. Poster präsentiert beim ISPOR, Wien 2017; 29.10.–2.11.2016

Gemeinsamer Bundesausschuss. Verfahrensordnung vom 07.08.2017

IQWiG. Allgemeine Methoden. Version 5.0 vom 10.07.2017

Klakow-Franck R. Die Bedeutung von Lebensqualität für die Arbeit des Gemeinsamen Bundesausschusses. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen 2014; 108:151–156

Müller T. Lebensqualität in der frühen Nutzenbewertung – Sichtweise des G-BA. 2017. Verfügbar unter https://www.vfa-patientenportal.de/download/praesentation-mueller

Schatz I et al. Integration der Patientensicht im Rahmen des Health Technology Assessments. Working Paper, 11/2016