Dr. Mira Meyer-Ács, Anne Hofmann, M.Sc., Dr. med. Marc Esser, Dr. PH Carsten Schwenke (veröffentlicht in Market Access & Health Policy 2023; 20(6): 20-23)

Ein Zwischenfazit auf dem Weg zum EU-HTA

EU-HTA – Vereinfachung oder Bürokratiemonster?

Am 12. Januar 2025 beginnt eine neue Ära für die Zusammenarbeit auf der europäischen Ebene im Bereich des Health Technology Assessments (HTA): Die gemeinsame klinische Bewertung (Joint Clinical Assessment, JCA) startet, zunächst für innovative Arzneimittel in der Krebstherapie sowie für neuartige Therapien. Das Konsortium EUnetHTA 21 hat in den vergangenen 24 Monaten große Anstrengungen unternommen, die EU-Verordnung 2021/2282 vom 15. Dezember 2021 in konkrete Leitlinien und Methodenpapiere zu überführen. Zum 16. September 2023 hat das Büro von EUnetHTA 21 seine Arbeit eingestellt; die weitere Zuständigkeit liegt in den Händen der HTA Coordination Group (HTACG). Wir gehen der Frage nach, ob aus den resultierenden Prozessen eine Vereinfachung für den pharmazeutischen Unternehmer beim Marktzugang in Europa zu erwarten ist.

Hintergrund

Es ist ein Minimalkonsens, auf den sich die 27 EU-Mitgliedsstaaten mit der EU-Verordnung 2021/2282 über die Bewertung von Gesundheitstechnologien nach jahrzehntelangem Ringen einigen konnten: Während wesentliche Aspekte – wie beispielsweise die Preisgestaltung und Erstattung – nationale Entscheidungen bleiben, besteht die EU-HTA in der gemeinsamen klinischen Bewertung innovativer Arzneimittel ohne abschließende Beurteilung. Herzstück ist der Artikel 1 Absatz 1b, der einen Mechanismus definiert, mit dem festgelegt wird, dass alle für diese gemeinsame klinische Bewertung von Gesundheitstechnologien erforderlichen Informationen, Daten, Analysen und sonstigen Nachweise vom Entwickler der Gesundheitstechnologie einmalig auf Unionsebene vorgelegt werden.1 Dieser Grundsatz wurde von der pharmazeutischen Industrie als bedeutsame Vereinfachung des Marktzugangs in Europa begrüßt.

Wagen wir einen zweiten Blick auf diesen wichtigen Abschnitt. Zweifelsfrei ist es sinnvoll, alle erforderlichen Informationen, Daten und sonstigen Nachweise für den Marktzugang in Europa einmalig einzureichen – doch wie verhält es sich mit den Analysen? Schließlich ist eine Analyse nur dann sinnvoll, wenn sie einer transparenten und akzeptierten Methodik folgt. 

Konsolidierte PICO-Schemata

Beginnen wir mit der Fragestellung der Analyse. EUnetHTA 21 hat diesem Aspekt große Aufmerksamkeit gewidmet und im Rahmen der prozeduralen Leitlinie zum Scoping-Prozess das folgende Vorgehen entwickelt:2 Für das innovative Arzneimittel werden in jedem der 27 Mitgliedstaaten Population, Intervention, Comparator und Outcome (PICO), welche zur Bewertung im nationalen Kontext benötigt werden, abgefragt. Die Ergebnisse werden in der Folge durch Assessoren der HTACG konsolidiert, so dass eine reduzierte Anzahl an PICO-Schemata als grundlegende Fragestellung für die gemeinsame klinische Bewertung resultiert. Das Vorgehen wurde für die drei Arzneimittel Pluvicto®, Ebvallo® und Pombiliti getestet und ergab jeweils sechs bis neun PICO-Schemata. Die Ergebnisse dieser Pilotverfahren wurden von EUnetHTA 21 veröffentlicht.3 Was hingegen nicht veröffentlicht wurde, ist der Weg der Konsolidierung. Weder werden in den einsehbaren Publikationen die ursprünglichen PICO-Schemata gezeigt, noch findet Erwähnung, welche Mitgliedstaaten ein PICO-Schema eingereicht haben. Für das JCA ist geplant, dem pharmazeutischen Unternehmer die resultierenden, konsolidierten PICO-Schemata vorzulegen; es ist hingegen nicht vorgesehen, ihn über den Konsolidierungsweg aufzuklären. Damit ist bereits die Fragestellung für die Analyse, die der pharmazeutische Unternehmer in der Folge leisten muss, intransparent. 

Unklare Analyse-Methodik

Aus der Tatsache, dass dem pharmazeutischen Unternehmer unbekannt bleibt, welches PICO-Schema aus welchem Land stammt bzw. welche Länder innerhalb eines resultierenden PICO-Schematas konsolidiert wurden, ergibt sich ein weiteres Problem: Er muss Analysen für definierte Fragestellungen vornehmen, ohne konkret zu wissen, welcher national anerkannten Methodik er Folge zu leisten hat, um die Akzeptanz der Analysen in einem bestimmten Mitgliedsstaat zu erreichen. So unterscheiden sich die HTA-Methoden beispielsweise in Deutschland und in Frankreich deutlich: Im deutschen AMNOG-Prozess sieht die Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vor, dass alle statistischen Tests zum zweiseitigen Signifikanzniveau von 5 % berichtet werden. In Frankreich hingegen wird in der HTA-Bewertung die Adjustierung für Multiplizität für die primären Analysen des primären Endpunkts oder der Endpunkte einbezogen, wenn diese beispielsweise im Hinblick auf Interimsanalysen a priori geplant war. Weiterhin spielt es in Deutschland keine Rolle, ob ein Endpunkt primär, sekundär oder explorativ geplant war, für die Ableitung des Zusatznutzens ist nur die Schwere bzw. Schwerwiegenheit des Outcomes von Bedeutung. Im französischen System wird dem primären Endpunkt mehr Beachtung geschenkt, analog zum Zulassungsprozess bei der European Medicines Agency (EMA).4, 5 Bislang steht im Raum, basierend auf den unterschiedlichen (intransparent konsolidierten) PICO-Schemata mehrere Analysen nach unterschiedlicher Methodik aufzusetzen – ein immenser Aufwand. Das EU-Horizon-Projekt SUSTAIN HTA der Universität Utrecht ist mit der Weiterentwicklung einer europäischen HTA-Methodik beauftragt;6 unklar ist, ob und wann die entwickelten Methoden nationale Akzeptanz finden werden.  

Prozessuale Herausforderungen 

Der Start des JCA verläuft parallel zum regulatorischen Zulassungsprozess bei der EMA. Es werden demnach enorme Ressourcen benötigt, um die Zulassung regulatorisch zu begleiten und gleichzeitig das JCA-Dossier inklusive aller geforderten Analysen frühzeitig zu erstellen und einzureichen. Dies alles passiert noch bevor der pharmazeutische Unternehmer die „List of Outstanding Questions“ erhalten oder Kenntnis über die Opinion des CHMP hat. Unklar ist zudem, welche Auswirkungen es auf den JCA-Prozess hat, wenn im Laufe des Zulassungsverfahrens Änderungen beispielsweise am Label vorgenommen werden. 

Dringender Nachbesserungsbedarf

EUnetHTA 21 hat in den vergangenen zwei Jahren wertvolle Arbeit geleistet, um die EU-Verordnung 2021/2282 zu konkretisieren. Ohne Zweifel stellt es eine wesentliche Vereinfachung für den pharmazeutischen Unternehmer dar, alle erforderlichen Informationen, Daten und sonstigen Nachweise einmalig auf EU-Ebene einreichen zu müssen, um den Marktzugang in allen Mitgliedsstaaten zu harmonisieren. Jedoch droht den pharmazeutischen Unternehmen ein gewaltiger Aufwand für Analysen, deren Sinnhaftigkeit in Frage steht. Noch kann die HTACG das Vorgehen in ein transparentes und effizientes Verfahren überführen, indem erstens der Konsolidierungsweg der PICO-Schemata nachvollziehbar durchgeführt und zweitens bekannt gegeben wird, welches Land welches PICO-Schema als Grundlage für das JCA sieht. Ultimativ ist eine einheitliche europäische Methodik für das HTA wünschenswert. Selbst bei einer vereinheitlichten Analyse-Methodik ist jedoch fraglich, ob derart umfangreiche Analysen sinnvoll sind, bevor wesentliche Fragen des Zulassungsverfahrens final geklärt sind.

Einen Überblick über die vorteilhaften Aspekte des EU-HTA sowie den Aspekt, für den nach wie vor dringender Nachbesserungsbedarf besteht, bietet Abbildung 1.

EU-HTA – Sinnhaftigkeit der geforderten Analysen
Abbildung 1: Es ist begrüßenswert, dass nach dem EU-HTA Informationen, Daten und sonstige Nachweise einmalig auf EU-Ebene eingereicht werden müssen. Die Sinnhaftigkeit der geforderten Analysen ist allerdings nach wie vor fraglich. Hier herrscht dringender Nachbesserungsbedarf. Quelle: co.value

Ausblick

Während es eine wesentliche Vereinfachung darstellt, alle erforderlichen Informationen, Daten und sonstigen Nachweise einmalig auf EU-Ebene einreichen zu müssen, besteht die Gefahr, dass sich das EU-HTA durch die geforderten Analysen zum Bürokratiemonster aufbläht. Hierfür sind drei Gründe zu nennen: Erstens ist die Herleitung der Analysefragestellungen (konsolidierte PICO-Schemata) intransparent. Zweitens ist die zugrunde zu legende Analyse-Methodik nicht geklärt. Drittens bestehen große Herausforderungen in der Parallelität von regulatorischem Zulassungsverfahren und JCA. Auf allen drei Feldern besteht die Möglichkeit einer Nachbesserung durch die HTACG.

Wir von co.value und SCO:SSiS beobachten und analysieren die Entwicklungen zum EU-HTA kontinuierlich. Bei Fragen beraten wir Sie gerne. Wir führen beispielsweise JCA-Impact-Analysen für Ihre Produkte durch und unterstützen Sie bei einer gemeinsamen Beratung durch EMA und die HTA bodies (Joint Scientific Advice, JSA). Durch die kürzliche Akquisition von der co.faktor GmbH mit seiner Beratungsbrand co.value durch Cytel, einem der weltweit führenden Anbieter im Bereich Statistik und Advanced Analytics für klinische Studien, sind wir zudem bestens darauf vorbereitet, Sie bei den zukünftigen Herausforderungen im Bereich der statistischen Analysen für das EU-HTA optimal vorzubereiten und ideal zu unterstützen.


Referenzen

1. European Parliament. Regulation (EU) 2021/2282 of the European Parliament and of the Council of 15 December 2021 on health technology assessment and amending Directive 2011/24/EU (Text with EEA relevance). 2021 [Zugriff am: 28.09.2023]; Verfügbar unter: https://eur-lex.europa.eu/eli/reg/2021/2282/oj.

2. EUnetHTA 21. Practical Guideline D4.2 Scoping Process. 2022 [Zugriff am: 28.09.2023]; Verfügbar unter: https://www.eunethta.eu/d4-2/.

3. EUnetHTA 21. Production of JCA/CA on medicinal products and medical devices. 2023 [Zugriff am: 28.09.2023]; Verfügbar unter: https://www.eunethta.eu/d5-4/.

4. Gemeinsamer Bundesausschuss. Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses. 2023 [Zugriff am: 28.09.2023]; Verfügbar unter: https://www.g-ba.de/downloads/62-492-3198/VerfO_2023-04-20_iK_2023-07-22.pdf.

5. Haute Autorité de Santé. Transparency Committee doctrine - Principles of medicinal product assessments and appraisal for reimbursement purposes. 2020 [Zugriff am: 28.09.2023]; Verfügbar unter: https://www.has-sante.fr/upload/docs/application/pdf/2019-07/doctrine_de_la_commission_de_la_transparence_-_version_anglaise.pdf.

6. EUnetHTA 21. EUnetHTA 21 - Stakeholder Meeting, 8 September 2023. 2023 [Zugriff am: 28.09.2023]; Verfügbar unter: https://www.eunethta.eu/wp-content/uploads/2023/09/EUnetHTA-21-Stakeholder-Meeting-08.09.2023-v0.2.pdf.