Dr. Juliane Schreier, Dr. Bastian Thaa, Dr. med. Marc Esser (veröffentlicht in Market Access & Health Policy 2018; 3(6):20-21)

Wie ATMPs die Nutzenbewertung verändern könnten

Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced therapy medicinal products, ATMP) stellen neue Behandlungs- und Heilungsmöglichkeiten für den Patienten dar und sind daher mit großen Hoffnungen verknüpft. Ihr Weg bis zum Einsatz am Patienten ist jedoch eine Herausforderung.

Schon Forschung und Entwicklung von ATMPs sind äußerst anspruchsvoll, wie auch der Zulassungsprozess, der ihrer Komplexität und Individualität Rechnung tragen muss. Die Erstattung von ATMPs wird stark diskutiert, und hinsichtlich der Nutzenbewertung steht man vor der Kardinalfrage, ob man die gleichen Maßstäbe wie bei klassischen Arzneimitteln anlegen kann.

Was sind ATMPs und welche Ziele verfolgen sie?

ATMPs sind primär biologische Therapeutika. Dabei lassen sich vier verschiedene Kategorien unterscheiden: ATMPs sind entweder rekombinante Nukleinsäuren (Gentherapeutika) oder biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte oder Zellen, deren biologische Eigenschaften substanziell verändert werden und die dem Patienten anschließend zum Beispiel zur Behandlung einer Krankheit verabreicht werden (somatische Zelltherapeutika). Zudem gibt es »kombinierte ATMPs«, Medizinprodukte mit einem Zell-/Gewebeanteil. Es handelt sich somit bei ATMPs meist um neuartige, komplexe Behandlungsmethoden.

ATMPs stellen eine biologische, häufig auf den jeweiligen Patienten zugeschnittene Therapieoption dar. Sie setzen den Trend zur individualisierten Medizin fort und gelten daher als Therapie der Zukunft in einer Vielzahl von Indikationen – von Multipler Sklerose bis zu Krebs. Ein Beispiel für ein ATMP mit erheblichem Potential in der Onkologie sind CAR-T-Zellen. Dabei handelt es sich um T-Zellen, die zunächst aus dem Blut des Patienten gewonnen und anschließend im Labor gentechnisch so verändert werden, dass sie chimäre Antigenrezeptoren (CAR) auf ihrer Oberfläche bilden, die gegen krebsspezifische Oberflächenproteine gerichtet sind. Die so veränderten und in den Patienten reinfundierten Zellen vermehren sich im Körper des Patienten und vermitteln idealerweise eine starke und langanhaltende Immunreaktion gegen den Krebs. CAR-T-Zellen eignen sich insbesondere zur Behandlung der akuten lymphatischen Leukämie – in den USA sind CAR-T-Zellen als Tisagenlecleucel (Kymriah®) hierfür bereits zugelassen; ein Zulassungsverfahren bei der EMA ist im Gang.

Die Entwicklung und besonders auch die Herstellung der ATMPs mit teils sehr hohen Kosten verbunden, sodass Unternehmen ein nicht unerhebliches Investitionsrisiko eingehen. Noch sind nicht viele ATMPs bis zur Marktreife entwickelt. Bislang sind in Deutschland 16 ATMPs zugelassen, sieben davon auf Basis einer zentralen europäischen Zulassung, die restlichen im Rahmen einer nationalen Zulassung. Um der Neuartigkeit und Komplexität der ATMPs gerecht zu werden, wurde auf EU-Ebene eine spezielle Verordnung (Nr. 1394/2007) erlassen, die die Zulassung regelt. Unter bestimmten Umständen, die im Arzneimittelgesetz (AMG, § 4b) geregelt sind, ist eine nationale Zulassung über das Paul-Ehrlich-Institut möglich, besonders bei individuellen Zubereitungen, die nicht routinemäßig hergestellt werden. Die Zulassungsverfahren haben sich also bereits an die besonderen Erfordernisse von ATMPs angepasst.

Nutzenbewertung von ATMPs

ATMPs unterstehen auch der Nutzenbewertung – wobei hier die Verfahren in Deutschland aber den Besonderheiten von ATMPs bisher kaum Rechnung tragen.

Die Nutzenbewertung von ATMPs beginnt mit der Frage, ob das zu bewertende ATMP eine Behandlungsmethode oder ein Arzneimittel darstellt (siehe Abbildung 1). Per Definition wird ein ATMP dann als Behandlungsmethode eingestuft, wenn der Handhabung durch den Arzt für den Therapieerfolg eine mindestens ebenso große Bedeutung zukommt wie dem Wirkprinzip selbst. Das Gewebsprodukt Holoclar® zum Ersatz der Cornea mit autologen Stammzellen ist z. B. ist eine Behandlungsmethode. Wird ein ATMP als Behandlungsmethode eingestuft, folgt eine Bewertung als Methode (§ 135 oder § 137c SGB V). Ist ein ATMP dagegen ein Arzneimittel, muss es das AMNOG-Verfahren (frühe Nutzenbewertung nach § 35a SGB V) durchlaufen. Die Schwierigkeit bei der Einstufung eines ATMP als Behandlungsmethode oder Arzneimittel ist, dass ATMPs nicht selten im Grenzbereich liegen. Diese Frage kann aber im Rahmen einer Beratung beim G-BA geklärt werden.

 

Nutzenbewertung von ATMPs

Abb. 1: Nutzenbewertung von ATMPs

 

Bislang fielen nur 3 der 16 zugelassenen ATMPs in die Kategorie Arzneimittel und mussten sich der Nutzenbewertung unterziehen (siehe Tabelle 1). Hierfür gelten die gleichen Regeln wie für andere Arzneimittel. Aber ist das sinnvoll?

Aus Sicht des G-BA und des IQWiG sind RCTs nach wie vor der »Gold-Standard« für die Nutzenbewertung neuer Therapien. Das gilt auch für ATMPs. Für ATMPs sind aber RCTs nicht immer möglich – gerade bei individualisierten Therapien ist ein RCT methodisch schwierig. Zudem sprechen mitunter ethische Gründe gegen die Durchführung eines RCT. Hinzu kommt, dass man es bei der klinischen Prüfung von ATMPs oft mit kleinen Fallzahlen zu tun hat, die umfassende RCTs ebenfalls häufig verhindern. Diese Problematik ist aus dem Bereich der Orphan Drugs bereits bekannt.

 

Tabelle: ATMPs mit abgeschlossener Nutzenbewertung

Tabelle 1: ATMPs mit abgeschlossener Nutzenbewertung

 

Wenn also RCTs bei vielen ATMPs nicht durchgeführt werden können, ist für diese ATMPs schon im Voraus klar, dass sie mit einem Malus in die Nutzenbewertung gehen. Vor dem Hintergrund der hohen Entwicklungs- und Herstellungskosten einerseits und dem enormen therapeutischen Potential von ATMPs andererseits ist das ein schlechtes Signal. Müssen G-BA und IQWiG hier reagieren und der hohen Individualität von ATMPs besser gerecht werden – durch Relativierung der starren Prinzipien? Möglicherweise ist es an der Zeit, für ATMPs, bei denen RCTs nicht durchgeführt werden können, auf andere Entscheidungsgrundlagen zurückzugreifen und diese stärker zu akzeptieren. Das könnten zum Beispiel nicht-randomisierte multizentrische und vergleichende Studien sein. Deren Darstellung im Nutzendossier ist zwar bereits jetzt möglich, die Ableitung eines Zusatznutzens mit einer höheren Ergebnissicherheit (Beleg, Hinweis) ist aber im Prinzip ausgeschlossen.

Eine weitere Herausforderung bei der Nutzenbewertung von ATMPs besteht in der Beurteilung von Langzeiteffekten. CAR-T-Zellen beispielsweise verbleiben jahrelang im Körper der Patienten, was Langzeitdaten zwingend notwendig macht. Die Unternehmen müssen daher mit der Forderung nach noch längeren Nachbeobachtungszeiten als bei klassischen Arzneimitteln rechnen. Ein langfristiges Follow-Up ist für Prüfzentren jedoch mit einem erheblichen Aufwand in Bezug auf Kosten und Personal verbunden und wird von den Patienten möglicherweise auch nicht gewünscht. Außerdem verzögert sich so eventuell der Marktzugang, was die Versorgung von Patienten mit ATMPs erheblich behindern kann. In diesem Zusammenhang könnten Versorgungsforschungsdaten und deren vermehrte Berücksichtigung in der Nutzenbewertung Abhilfe schaffen.

Erstattung von ATMPs

Genau wie in der Nutzenbewertung wird auch hinsichtlich der Erstattung nicht zwischen klassischen Arzneimitteln und ATMPs unterschieden. Auch hier ist die Vorgehensweise aufgrund der hohen Individualität von ATMPs zumindest zu hinterfragen. Eine Möglichkeit wären qualitätsorientierte Vergütungsmodelle (Stichwort: »Pay per performance« – Erstattung nur bei Erfolg der Therapie, zum Beispiel Remission bei einer Krebserkrankung; ein Vergütungsmodell, das beispielsweise in den USA für CAR-T-Zellen möglich ist). Eine ganz wesentliche Rolle im Zusammenhang mit der Erstattungsfähigkeit von ATMPs spielt derzeit der Sektor – stationär oder ambulant –, in dem das ATMP angewendet werden soll. Hierüber sollten die Entwickler bereits frühzeitig entscheiden. Im stationären Sektor ist die Einführung von ATMPs wesentlich leichter zu erreichen, da der G-BA hier nur einen Verbotsvorbehalt ausübt und Verfahren existieren, um die Erstattung zu regeln (NUB-Verfahren). Im ambulanten Sektor dagegen ist eine explizite Erstattungserlaubnis durch den G-BA erforderlich und damit eine Nutzenbewertung. Da es bei neuartigen Therapien meist keinen Vergleichsstandard gibt, treibt dies den Preis von ATMPs in die Höhe. Es wird jedoch erwartet, dass sich die Kosten in den nächsten Jahren durch technische Fortschritte bei der Herstellung und Logistik sowie stärkere Konkurrenz langsam reduzieren werden.

Ausblick und Fazit: ATMPs haben das Potential, die Therapie vielfältiger Erkrankungen zu revolutionieren. Um ihrer hohen Individualität auch im AMNOG-Prozess gerecht zu werden, sollte eine Möglichkeit gefunden werden, wie ATMPs auch ohne RCTs einen hohen Zusatznutzen erreichen können. Eine höhere Akzeptanz von nicht-randomisierten multizentrischen und vergleichenden Studien wäre ein Ansatz.