Dr. Marc Esser und Dr. Bastian Thaa (veröffentlicht in Market Access & Health Policy 2019; 9(2): 22–24)

Vom Market Access zum Patient Access: Die Patientenperspektive im Market Access stärken

Die Nutzenbewertung von Arzneimitteln ist prinzipiell patientenzentriert, da die Patientenrelevanz von Endpunkten entscheidend für einen Zusatznutzen ist. Dennoch wird im Market Access von Pharmaunternehmen vielfach noch zu unternehmenszentriert anstatt patientenzentriert gedacht. Wir zeigen Ansatzpunkte auf, wie man der gewachsenen Bedeutung der Patienten besser gerecht werden kann.

Paradigmenwechsel vom Market Access zum Patient Access

Während mit dem Begriff »Market Access« die Ziele des Pharmaunternehmens auf den Punkt gebracht werden, ist »Patient Access« ein Begriff, auf den sich alle Stakeholder verständigen können, insbesondere auch die Payer. Auch Payer sind – genau wie Ärzte – prinzipiell daran interessiert, dass Patienten Zugang zu den besten Therapien haben. Insofern sind Pharmaunternehmen gut beraten, Patient Access in den Vordergrund zu stellen, wenn sie mit anderen Stakeholdern, insbesondere mit Payern kommunizieren. 

Die Patientenrolle in der frühen Nutzenbewertung

Bei der frühen Nutzenbewertung spielen Patientenvertreter vielfältige Rollen im Bewertungsprozess, auch wenn sie keine direkte Entscheidungsgewalt haben (siehe auch Abb. 1). Beim G-BA haben Patientenvertreter ein Mitberatungsrecht, das etwa 250 Personen als ständige Patientenvertreter in ca. 130 Gremien oder themenbezogen in einzelnen Sitzungen wahrnehmen. Die Patientenvertreter werden von den Patientenorganisationen als sachkundige Personen benannt. Auch das IQWiG berücksichtigt die Patientensicht bei der Dossierbewertung, indem Patientenvertreter im Rahmen jedes Nutzenbewertungsverfahrens einen Fragebogen zur Erkrankung und deren Behandlung ausfüllen können. Bei den Beratungen des G-BA im Rahmen des Stellungnahmeverfahrens, das zwischen Dossierbewertung und Beschluss stattfindet, können sich auch Vertreter der Patientenorganisationen beteiligen; in der Regel nutzen sie diese Möglichkeit rege. Bei der abschließenden Entscheidung des G-BA über den Zusatznutzen sind Patientenvertreter bisher jedoch nicht stimmberechtigt.  Bei der anschließenden Preisverhandlung zwischen Pharmaunternehmen und GKV-Spitzenverband sind Patientenvertreter nicht beteiligt. Können sich das Pharmaunternehmen und der GKV-Spitzenverband nicht über einen Erstattungsbetrag einigen und der Fall landet vor der Schiedsstelle, haben die Patientenvertreter ein Mitberatungsrecht. Seit einiger Zeit fordern die Patientenvertreter mehr Beteiligungsrechte. Wir sind davon überzeugt, dass der Einfluss von Patienten in der Nutzenbewertung in nächster Zeit eher zunehmen wird. Neben der frühen Nutzenbewertung, die für Pharmaunternehmen natürlich besonders wichtig ist, sind Patienten auch in anderen Bereichen vielfach an Prozessen im Gesundheitswesen beteiligt, unter anderem bei der Erstellung der Nationalen Versorgungsleitlinien und im Rahmen von Zulassungsentscheidungen des BfArM.

Beteiligung von Patienten im AMNOG-Prozess

Abbildung 1: Beteiligung von Patienten im AMNOG-Prozess.

Zusammenarbeit mit Expertenpatienten

Die wichtige Rolle, die Patienten in der Nutzenbewertung und in anderen Bereichen des Gesundheitswesens haben, wird vielfach im Market Access noch nicht richtig adressiert. Viele Pharmaunternehmen haben sich in der Vergangenheit lediglich auf die Kooperation mit Ärzten konzentriert. Aber Ärzte kennen nur einen Teil des Bildes und wissen häufig nicht, was vor der Diagnose passiert, in Behandlungspausen und nach Behandlungsabbruch. Patienten – und dies gilt insbesondere für chronische Erkrankungen – sind inzwischen oft selbst Experten für ihre Erkrankung. Besonders interessant ist für die Industrie die Zusammenarbeit mit sogenannten Expertenpatienten. Expertenpatienten sind Spezialisten für eine bestimmte Indikation, verfügen über die Fähigkeit, dieses Wissen zu artikulieren, und sind bereit, sich mit Pharmaunternehmen auszutauschen. Wir haben bei co.value sehr gute Erfahrungen mit der Durchführung von Patient Advisory Meetings gemacht, in denen Patienten ihren Standpunkt formulieren und mit Mitarbeitern von Pharmaunternehmen austauschen. Diese Meetings sind ideal geeignet, die Patientenorientierung der beteiligten Pharmaunternehmen zu steigern. Auch Patientenorganisationen verfügen über ein fundiertes Wissen, wie Patienten ihre Krankheit erleben und welche Bedürfnisse sie bei deren Bewältigung haben. Von diesem Wissen können Mitarbeiter im Market Access profitieren, wenn sie mit Patientenorganisationen zusammenarbeiten – z. B. im Rahmen von Stakeholdergesprächen.

Patientenprogramme

Ein großes Problem für das Gesundheitssystem ist die Non-Adhärenz der Patienten: In Deutschland betragen die Kosten der Non-Adhärenz für das Gesundheitssystem ca. 10 Mrd. Euro pro Jahr. Dabei entstehen die Kosten insbesondere durch vermeidbare Krankenhausaufhalte. Payer sind für die Kosten der Non-Adhärenz besonders sensibilisiert. Das wirksamste Instrument zur Adhärenzsteigerung sind Patientenprogramme, also eine auf den Patienten zugeschnittene Kommunikation und Beratung. Patientenprogramme sind ein hervorragendes Argument in Verhandlungen mit Payern, zeigen sie doch das Commitment des Pharmaunternehmens, die Patientenversorgung über das Notwendige hinaus zu verbessern. Durch die Digitalisierung lassen sich Patientenprogramme heute oftmals kosteneffizienter umsetzen als früher. Auch können durch Patientenprogramme Real-World-Daten erhoben werden, die im Market Access nutzbringend verwendet werden können, z. B. bei Erstattungsverhandlungen. Auch viele Ärzte erwarten gerade bei chronischen Indikationen von der Pharmaindustrie Patientenprogramme zu ihrer eigenen Entlastung und zur Steigerung der Patientenadhärenz. Fehlende Patientenprogramme können somit zu Akzeptanzproblemen bei Patienten, Ärzten und Payern führen.

Patientenforschung

Pharmaunternehmen sollten zudem unbedingt eigene Patientenforschung betreiben, um Patientenmotive besser zu berücksichtigen und beispielsweise Patientenpräferenzen oder die Adhärenz der Patienten auch messen zu können. Patientenforschung ist darüber hinaus auch ideal geeignet, um mit den relevanten Patientengruppen in Kontakt zu treten. Patientenforschung zahlt sich im Market Access unmittelbar aus, z.B. wenn Studiendaten zu Patientenpräferenzen in Erstattungsbetragsverhandlungen präsentiert werden können, um den Wert des Arzneimittels zu untermauern.

Mit Patient Journeys die Patientenrolle besser verstehen

Teilweise wird in Pharmaunternehmen die Patientenrolle im Krankheitsprozess nicht bis ins letzte Detail verstanden. Um die Patientenrolle besser nachvollziehbar herauszuarbeiten, arbeiten wir als Strategietool gerne mit »Patient Journeys«. Eine Patient Journey zeigt den Weg eines Patienten durch seine Erkrankung, angefangen von den ersten Symptomen bis hin zur Nachbeobachtung nach einer erfolgreichen Therapie. Alle Abzweigungen oder Kreuzungen auf diesem Weg sollten dargestellt und mit Beweggründen und Handlungswahrscheinlichkeiten versehen werden. Oft ergeben sich durch so eine Darstellung neue Ideen für die Optimierung des Marktzugangs oder es werden Medical Needs »beyond the pill« entdeckt.

Für die Umsetzung der Patientenreise sollten natürlich so viele Daten wie möglich gewonnen werden, und zwar sowohl qualitativer als auch quantitativer Art. Qualitative Daten eignen sich insbesondere für die Darstellung von Insights der Patienten, aber auch anderer Stakeholder (Ärzte, Payer, Pflegepersonen usw.). Die Quellen quantitativer Daten einer Patientenreise sind häufig sehr divers. In den letzten Jahren rückten Real-World-Daten immer mehr in den Vordergrund, um die Versorgung von Patienten praxisnah zu erfassen.

Beispielhafte Fragen, die bei der Erstellung einer Patientenreise beantwortet werden müssen, sind:

  • Mit welcher Wahrscheinlichkeit werden welche Behandlungspfade durchlaufen?
  • Wie ist die Patientenpopulation exakt definiert?
  • Wie viele Patienten leiden unter welchen Komorbiditäten?
  • Wie viele Patienten erreichen das nächste Stadium?
  • Wie viel Zeit vergeht zwischen einzelnen Krankheitsstadien?
  • Wie sehen Patienten die verschiedenen Therapiealternativen?
  • Wie ist die Adhärenz des Patienten?

Mit einer Patient Journey lässt sich somit die Versorgung der Patienten ideal visualisieren – mit Fokus auf die letztendlich wesentlichen Personen, nämlich diejenigen, die von der Krankheit tatsächlich betroffen sind. Dieses Strategietool kann somit auch dabei helfen, den Marktzugang eines neuen Arzneimittels optimal und patientenzentriert zu planen. Eine patientenbezogene Kommunikation öffnet im Market Access viele Türen.

Was eine vollständige Patient Journey leistet

  • Gesamtsicht des Patienten während seiner komplexen Reise durchs Gesundheitswesen
  • Integration der Rolle aller Beteiligten wie Ärzte, Pflegepersonen, Payer usw.
  • Vermittlung von Insights in Entscheidungsgründe und Motivlagen
  • Basis für die Generierung neuer Ideen und Adressierung von »Unmet Medical Needs«

Fazit: Patienten spielen eine zunehmend wichtigere Rolle für Erfolg im Market Access. Das wird in der Arbeit vieler Pharmaunternehmen bisher noch nicht ausreichend reflektiert. Langfristig werden nur Pharmaunternehmen erfolgreich sein, die es verstehen, den Wert ihrer Produkte für Patienten ausreichend klarzumachen – dafür ist die Zusammenarbeit mit Patienten essentiell.