Dr. Bastian Thaa, Dr. Marc Esser (veröffentlicht in Market Access & Health Policy 2018; 2(6):24-25)

Europaweite Beratung für Zulassung und Nutzenbewertung – alle Fliegen mit einer Klappe schlagen?

Medikamentenzulassungen erfolgen heutzutage für gewöhnlich durch die EMA auf europäischer Ebene. HTA/Nutzenbewertung hingegen ist eine nationale Domäne geblieben. Wäre es nicht attraktiv, auch für den Nutzenbewertungsprozess europaweite Standards zu haben? Dieses Ziel verfolgt die EUnetHTA-Initiative und entwickelt einen Prozess für eine koordinierte europaweite frühe Beratung für HTA.

Der Weg zur europäischen Nutzenbewertung – die EUnetHTA-Initiative

Während neue Arzneimittel in ganz Europa auf Basis eines einzigen Antrags zugelassen werden können, gibt es bei der Nutzenbewertung ein solches europaweit vereinheitlichtes Procedere bisher nicht. Die Gesundheitssysteme verschiedener europäischer Länder sind hierfür zu divers, mit entsprechenden nationalen (oder gar regionalen) Unterschieden bei der Kostenerstattung.

Es gibt aber schon seit längerer Zeit Bestrebungen einer europaweiten Zusammenarbeit im Bereich HTA. Zu diesem Zweck wurde bereits 2006 das europäische HTA-Netzwerk »EUnetHTA« (European Network for Health Technology Assessment) ins Leben gerufen, es umfasst inzwischen 79 Organisationen aus 29 Ländern, darunter die deutschen Institutionen DIMDI, G-BA und IQWiG. Zunächst war EUnetHTA besonders für kleinere Länder ohne größere eigene HTA-Systeme interessant, inzwischen beteiligen sich aber HTA-Organisationen aus allen EU-Ländern außer Luxemburg und darüber hinaus auch aus Norwegen und der Schweiz an diesem Netzwerk.

Das Ziel von EUnetHTA ist, die Zusammenarbeit in Europa im Bereich HTA zu stärken. Ein Schwerpunkt ist dabei der Aufbau eines europaweiten HTA-Beratungsprozesses für pharmazeutische Unternehmen, insbesondere im Hinblick auf die Planung möglichst guter Studien.

Bislang sind solche Beratungen auf nationaler Ebene möglich, so auch beim G-BA, auf Wunsch unter Beteiligung der zuständigen Zulassungsbehörde. Die Beratung beim G-BA wird rege genutzt: Die Anzahl der Verfahren ist seit Einführung des AMNOG in jedem Jahr gestiegen, auf total 204 im Jahr 2016. Bei knapp 20 % dieser Beratungsverfahren war die Zulassungsbehörde eingebunden, wobei dieser Anteil in den beiden Jahren davor höher gelegen hatte. Das Verfahren dauert vom Einreichen der Beratungsanforderung bis zum Beratungsgespräch ca. 10 Wochen. Bei anderen großen nationalen HTA-Organisationen in Europa gibt es ähnliche Beratungsverfahren, zum Beispiel den »Scientific Advice« beim NICE im Vereinigten Königreich oder das »Rencontre précoce« bei der Haute Autorité de Santé (HAS) in Frankreich. Bei diesen beiden Beratungsverfahren können nicht nur Fragen zum Studiendesign gestellt werden, sondern auch zu den geforderten gesundheitsökonomischen Modellen. Beide Verfahren beinhalten im Unterschied zur Beratung beim G-BA regelhaft einen Zwischenschritt, bei dem die HTA-Institution Rückfragen an den pharmazeutischen Unternehmer stellt. Die Verfahren dauern etwas länger als das des G-BA (bis zu einem halben Jahr).

Der Aufbau einer europaweiten Beratung war bislang Gegenstand mehrerer EUnetHTA-Pilotprojekte, die von der Europäischen Kommission gefördert wurden; derzeit läuft »Joint Action 3«. Basierend auf den Erfahrungen aus den Pilotprojekten wurde im letzten Jahr im Rahmen von EUnetHTA ein europaweiter Beratungsprozess versuchsweise implementiert – der »Early Dialogue«.

 

Beratungsverfahren im Rahmen von EUnetHTA (»Early Dialogue«) und in Deutschland (G-BA).

Beratungsverfahren – im Rahmen von EUnetHTA (»Early Dialogue«, links) und in Deutschland (G-BA, rechts).

 

Der »Early Dialogue«: europaweite frühe Beratung für Zulassung und Nutzenbewertung

Der »Early Dialogue« ist eine Beratung, die gleichzeitig von mehreren europäischen HTA-Institutionen angefordert wird (»Multi-HTA«). Wenn zusätzlich auch die EMA und damit das Feld Zulassung/Regulatorik eingebunden wird, heißt der Prozess »Parallel Consultation«. Zur Koordination der Anfragen hat EUnetHTA eine ständige Arbeitsgruppe (»Early Dialogues Working Party«, EDWP) und ein Sekretariat geschaffen. Das Sekretariat wird vom G-BA und der französischen HAS geführt und fungiert als einheitlicher Ansprechpartner. Dies dürfte das Verfahren für die Antragsteller erheblich vereinfachen. Außerdem wird das Verfahren so standardisiert.

Die Vorgehensweise für den »Early Dialogue« ist mehrstufig und komplex, mit einer Dauer von mindestens 120 Tagen. Es handelt sich bei dem Prozess insofern um einen »Dialog«, als die Anfrage mehrmals zwischen den Institutionen und dem Antragsteller hin- und hergeschickt wird. Dies ermöglicht es dem pharmazeutischen Unternehmen, ausführlich Stellung zu nehmen und zu argumentieren. Dies ist ein Unterschied zur Beratung beim G-BA und ähnelt eher den Beratungsverfahren in Großbritannien und Frankreich.

Zunächst muss eine initiale Anfrage (»Letter of Intent«) gestellt werden, zumindest derzeit auf eine einzelne Indikation beschränkt. Auf Grundlage des »Letter of Intent« stellt EUnetHTA ein Komitee für den frühen Dialog (»Early Dialogue Committee«) zusammen, das mehrere HTA-Institutionen aus verschiedenen Ländern umfasst. Schon hier wird entschieden, ob die Beratung »konsolidiert« oder »individuell« erfolgen wird, also ob die im Komitee beteiligten HTA-Institutionen eine gemeinsame Position erarbeiten werden oder nicht. Dies zeigt, dass das Verfahren im Prinzip gar nicht darauf abzielt, in jedem Fall eine für ganz Europa gültige Aussage im Hinblick auf die Nutzenbewertung zu ermitteln.

Nach einer Bestätigung des »Letter of Intent« durch EUnetHTA (bei der »Parallel Consultation« auch der EMA) reicht der pharmazeutische Unternehmer eine vorläufige Beratungsanforderung ein, das »Draft Briefing Document«, manchmal auch als »Briefing Book« bezeichnet – also ein umfangreiches Dokument. Darin führt der Antragsteller seine Fragen und seine jeweilige Position aus und fügt Unterlagen wie Studienpläne bei. Dieses »Draft Briefing Document« wird von den beteiligten Institutionen kommentiert und zur Überarbeitung an den Antragsteller zurückgespielt. Dieser pflegt die Kommentare ein und reicht anschließend das finale Beratungsanforderungs-Dokument (»Briefing Document«) ein. Jetzt beginnt das eigentliche Verfahren; bis zu diesem Zeitpunkt sind nach Plan 60 Tage vergangen (»Pre-Submission Phase«).

Nun beginnt die »Evaluation Phase«. Die HTA-Institutionen – bei der »Parallel Consultation« auch die EMA – erarbeiten zunächst auf Basis des »Briefing Document« eine Liste von Anliegen (»List of Issues«), tauschen diese gegenseitig aus und legen sie dann dem Antragsteller vor, der dazu Stellung nimmt. Neue Fragen sind an dieser Stelle nicht mehr vorgesehen. Schließlich findet planmäßig 60 Tage nach Eröffnung des Verfahrens eine mehrstündige Anhörung (»Face-to-Face Meeting«) aller Beteiligten statt, wo vor allem strittige und unklare Punkte diskutiert werden sollen, ggf. auch unter Beteiligung von Experten und Patientenvertretern. Schließlich wird ein Abschlussdokument der Beratung erstellt, entweder mit konsolidierten Antworten oder – wenn die Positionen zu unterschiedlich sind – mit den Positionen der einzelnen beteiligten HTA-Institutionen. Bei der parallelen Konsultation gibt es zudem ein regulatorisches Abschlussdokument (»CHMP Scientific Advice/Protocol Assistance Letter«).

Perspektiven

Für das erste Jahr (also 2017/18) sind fünf »Early Dialogues« vorgesehen, im zweiten Jahr acht bis zehn. Nach Auskunft der EMA von September 2017 wurden bis dahin acht Anträge auf parallele Beratung eingereicht. Dies sei im Rahmen der Erwartungen und werde als positiver Trend erachtet. Wenn sich das Verfahren bewährt, dann müsste es anschließend hochskaliert werden – mit erheblichem Mehraufwand für die beteiligten Institutionen. Zum Vergleich: Innerhalb eines Jahres finden allein beim G-BA über zweihundert Beratungen statt, bislang noch ohne EUnetHTA-»Early Dialogues«, die zu einem gewissen Teil auch vom G-BA geleistet werden sollen. Es ist zu erwarten, dass die Beratungsverfahren eine zunehmende Belastung für den G-BA bedeuten. Kürzlich hat der G-BA bereits die Zeitschiene für das deutsche Beratungsverfahren angepasst, mit jetzt 10 statt bisher 8 Wochen Wartezeit zwischen Einreichen der Unterlagen und Beratungsgespräch.

Es besteht die Absicht, nach Ende der EU-Förderung den »Early Dialogue«-Prozess in einen regulären, kostenpflichtigen Service zu überführen. Der Arbeitsaufwand für den ganzen Prozess dürfte vergleichbar mit dem Aufwand für ein Nutzendossier sein – vermutlich auch hinsichtlich der Kosten. Allerdings ersetzt der »Early Dialogue« einzelne nationale Beratungen, die aber für sich genommen weniger aufwendig sind.

Der Beratungsprozess im Rahmen von EUnetHTA bietet unbestritten Vorteile. Ein wesentlicher positiver Aspekt ist dabei, dass die Administration gut strukturiert ist und dass es die Perspektive einer vereinheitlichten, von allen beteiligten HTA-Institutionen akzeptierten Dokumentstruktur gibt. Dies dürfte einen nachhaltigen Nutzen darstellen, konzeptionell vergleichbar mit dem Common Technical Document (CTD) als formale Basis für Zulassungsdossiers.

Der »Early Dialogue«-Prozess führt aber wahrscheinlich nicht zu europaweit harmonisierten Standards in der Nutzenbewertung. Es geht beim »Early Dialogue« nämlich nicht zwingend darum, dass eine gemeinsame Position aller unterschiedlichen HTA-Behörden Europas erarbeitet wird – vielmehr dürften Unterschiede deutlich werden. So wird der pharmazeutische Unternehmer aber auf möglicherweise uneinheitliche Bewertungsmaßstäbe aufmerksam und kann bereits bei der Studienplanung die verschiedenen Ansprüche gegeneinander abwägen.

Das Ergebnis der Beratung stellt allerdings »nur« eine Momentaufnahme dar – wie auch eine nationale Beratung, zum Beispiel die des G-BA. Die Antworten stehen stets unter dem Vorbehalt, dass sich durch den medizinischen Fortschritt neue Bewertungsgrundlagen ergeben können, etwa bezüglich der Vergleichstherapien. Es ist außerdem denkbar, dass der medizinische Fortschritt von verschiedenen HTA-Institutionen unterschiedlich eingeschätzt wird. Schließlich kann sich auch jederzeit die relevante nationale Gesetzgebung in den beteiligten Ländern ändern – so ist das AMNOG erst nach Aufbau von EUnetHTA und im Wesentlichen unabhängig davon geschaffen worden.

Die Alternative für die pharmazeutischen Unternehmen besteht nach wie vor darin, exemplarisch ein einzelnes nationales Beratungsverfahren zu durchlaufen, zum Beispiel das des G-BA, und daraus strategische Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Bewertungsmaßstäbe für die Nutzenbewertung sind und bleiben ja ohnehin derzeit je nach Land unterschiedlich. Es bietet sich für das pharmazeutische Unternehmen an, bei einer solchen exemplarischen Beratung die Unterstützung eines lokalen Dienstleisters zu nutzen, der sich mit den landesspezifischen Anforderungen und Besonderheiten gut auskennt.

Fazit: Der »Early Dialogue« von EUnetHTA und EMA bietet seit kurzem eine europaweite Beratung zur Studienplanung im Hinblick auf Nutzenbewertung und Zulassung. Das Verfahren hat administrative Vorteile, bietet aber nicht unbedingt eine europaweit konsolidierte Antwort bezüglich der Anforderungen an die Nutzenbewertung, die auf absehbare Zeit eine nationale Domäne bleiben wird.